Die Perversion in der Schreibweise Heinrich von Kleists
Michèle Jung
Beiträge zur Kleist-Forschung (1998),
http://www.heinrich-von-kleist.org/kleist-museum/wir-ueber-uns/kleist-gedenk-und-forschungsstaette-ev/
Seiten 207-211. Kleist-Gedenk
Diese o.g. Forschungsarbeit ist das Resultat langjähriger Beschäftigung mit dem Werk und der rätselhaften Person Kleists. Die Theatertexte, vor allem die Tragödie « Penthesilea », finden dabei besondere Berücksichtigung. Dennoch umfaßt das untersuchte Textkorpus sowohl die Briefe als auch die theoretischen Texte Kleists.
Das Ziel der 1996 als Dissertation an der Universität Montpellier eingereichten Arbeit war es, ausgehend von einem psychoanalytischen Deutungsansatz, Züge der « Perversion » in den Schriften und in der Schreibweise Kleists herauszuarbeiten.
So, wie Lacans[1] geistige Verwandtschaft mit surrealistischen Schrifstellern[2] ihm erlaubt hat, seine Theorie – nach welcher das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert ist – an diesen Autoren zu bestätigen, so soll die vorliegende Studie der Ausdrucksweise Kleists, unter dem Blinkwinkel neuerer psychoanalytischer Forschungen in bezug auf die « Perversion »[3], sachgemäße Beispiele dazu geben : die Arbeit versucht darzustellen, daß im Leben und in der Schreibweise Kleists zahlreiche Züge einer « perversen » Struktur existieren.
Die umfangreiche Studie über Kleist, welche Isidor Sadger4 1909 für Les Minutes de la société psychanalytique de Vienne geschrieben hat, bildet den Grundpfeiler der vorliegenden Arbeit.
Jene Forschungsperspektive – sie wählt einen strukturalistischen Zugang zur « Perversion » – erlaubt es, die Beziehung zwischen Dasein und Signifikanz in die Debatte einzuführen[5] und so die Frage der Sprache zu erörtern. Sie eröffnet den Zugang zur Analyse von Kleists Schreibweise und seiner Sprache auf einem Gebiet, auf dem sich Literaturwissenschaft, Linguistik und Psychoanalyse überschneiden : ein so komplexes Phänomen wie das literarische Schaffen erfordert notwendigerweise verschiedene Annäherungsweisen.
In ersten Teil der Dissertation werden – nach Darstellung der Freudschen Begriffe, auf die sich die vorliegende Arbeit in bezug auf die Perversion[6] stützt, und deren Weiterführung bei Lacan – die Beziehungen des « Perversen » zum Gesetz untersucht, um sehen zu können, wie die Untersuchung der Schreibweise ein Werkzeug sein kann, die Realität des Autors zu verstehen.
Die Arbeit zeigt am Beispiel Kleists, daß im Prozeß der « Perversion » eine Dynamik existiert, welche das schreibende Individuum unter anderem zur Übertretung der Regeln und der festgesetzten Normen treibt. Es handelt sich dabei um eine Strategie, die das schreibende Individuum anstelle des Gesetzes[7] und des Symbolisierens entwickelt, nämlich um eine strukturelle Form der Lustverschiebung. Freud definiert die Sublimierung[8] als verändertes Ziel des Sexualtriebs, als eine Verschiebung auf ein nicht sexuelles[9], sondern gesellschaftlich höher bewertetes Ziel hin. Der Dichter beispielweise organisiert sein Triebleben beim Schreiben, das ihm zum unentbehrlichen Akt, zur absoluten Notwendigkeit[10] wird.
Nachdem « Perversion » zunächst allgemein als eine psychische Struktur definiert wurde, in welcher die Beziehungen zur Sprache von Grund auf « pervertiert » sind, und nachdem die Beziehungen des « Perversen » zum Gesetz gezeigt wurden, ist in einem weiteren Schritt der vorliegenden Abhandlung die Hypothese aufgestellt worden, daß sich Heinrich von Kleist als « Perverser » strukturiert hat. Im Zuge der Untersuchung ging es jedoch nicht um Psychoanalyse des Schriftstellers, sondern darum, die unbewußten Muster und die Phantasien zu erkennen, die in seinen Texten wirksam sind : die Arbeit gelangt zu der Schlußfolgerung, daß Kleist im Akt des Schreibens seine Phantasien in Handlung umsetzte und daß sein Stil Ausdruck seines Selbstschutzes war.
Im zweiten Teil der Dissertation wird das Theater Kleists mit dem Ziel untersucht, immer wiederkehrende Themen, von denen er nicht loskam und deren « perversen » Gehalt im Sinne des Untersuchungsansatzes herauszuarbeiten.
Kleists « Perversion » – so das Ergebnis der Analyse – erlaubte es ihm, ausgetretene Pfade der Kunst zu verlassen, « ver-rückt » zu reden bzw. seine Figuren « ver-rückt » reden zu lassen und Öffnungen in den Text einzubauen. In solcherart gestörtem Gleichtgewicht bekommt die Ohnmacht – die Synkope – eine gänzlich « perverse » Dimension : im Zentrum des Bewußtseinsfeldes ereignet sich eine Persönlichkeitsspaltung. Das erlaubt es zum Beispiel der Figur der Penthesilea, in dieser geistigen Umnachtung gleichsam, « durch den Spiegel hindurchzugehen ». In der Strategie jener Grenzüberschreitungen, so wird in der Arbeit vorgeführt, gönnt sich Heinrich von Kleist das Recht auf Genuß. Es bleibt die Frage, welche Strategien er anwandte, um die dabei unausbleibliche Entfremdung des Schreibenden von seinem Schreiben zu sublimieren.
Diese Frage ist Gegenstand des dritten Teils der Dissertation, der unter dem gewählten Ansatz Kleists Verhältnis zur Sprache darstellt. Es wird zu zeigen versucht, inwiefern der unvergleichliche Stil des Dichters mit seiner Persönlichkeit übereinstimmt und inwiefern Kleists Stil auf « perversem » Verhalten gründet. Dieses zeichnet sich durch mangelnde Bereitschaft aus, die gesellschaftlichen Normen und Regeln zu akzeptieren : beständig sucht der « Perverse » das Gesetz zu umgehen, jenes Gesetz, das er letzlich zerstören muß, um schaffen zu können. Kleist verstand es meisterhaft, sich der Sprache zu bedienen und sie als Mittel des Verdrehens zu nutzen.
Im Zuge der Analyse wird die Frage des Zusammenhangs zwischen den sprachwissenschaftlichen Zügen, welche die Schreibweise charakterisieren – Züge, die hier bewußt « Besonderheiten » Kleists genannt werden – und der perversen Struktur dieser Schreibweise gestellt : es wird die Beziehung des « Perversen » zum Gesetz analysiert und zwar in den Übertretungen, Abweichungen und Verdrehungen, sowohl auf dem Gebiet der Grammatik und der Rhetorik, als auch im Erfindungsreichtum der Wortverschachtelungen, im Rhythmus der Prosodie, in der Sinnverschleierung, in den Gegebenheiten des Signifikanten, in Kleists anagrammatischen Überraschungen und im verwirrenden Spiel des Wortwitzes.
In der Dramaturgie des Schreibens, wie sie sich etwa in der Penthesilea findet, übertritt das, was sich abspielt, so sehr die Normen und Regeln, ist das, was sich abspielt, so « ungeheuerlich », daß man von noch nie Dagewesenem und noch nie Dargestelltem sprechen kann. Dazu muß die Schreibweise « ungeheuerlich » werden, sozusagen : « un-erhört ». Alle diese in vorliegender Arbeit beschriebenen « Besonderheiten » sind bedeutsam für einen Kampf, dessen « Ungeheuerlichkeit » alle Regeln bricht. Die Analyse versucht gleichsam, das Sprach- « Versehen » gerade dort einzuholen11, wo sich der Akt des Schreibens ereignet – dort wo wir täuschen und getäuscht werden.
Ebenso enthüllen Kleists Briefe sowohl in ihren Themen als auch in ihrer Schreibweise eine Sprache, deren Gleichgewicht ständig gestört ist. Diese Störung ist ein « Ver-rücken ». Diese Ver-rücktheit aber ist nicht pathologisch, sondern sie ist, ganz im Gegenteil, gleichsam eine gesunde Ver-rücktheit, die ent-territorialisiert, die alles was sie anrührt, öffnet und sich neu bilden läßt. In diesem Moment setzt die bis aufs äußerste gespannte Sprache Leben frei. Das Drama erscheint, und die Dinge bewegen sich, treten ins Bewußtsein : « Noch ist nichts ganz entschieden, aber – der Würfel liegt… », sagt Kleist[12].
Im Anhang der Dissertation findet sich eine Auswahl von Texten, die es ermöglichen, den sozialen und kulturellen Kontext, in dem Kleist seine Werke schuf, besser zu verstehen. Beigegeben ist auch eine umfassende Bibliographie, die – in französischen und deutschen Ausgaben – Titel von literaturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Werken sowie von Werken über die Technik des Theaters aufführt.
Über das Beispiel Kleist hinaus stellt die Arbeit die Frage nach dem generellen Zusammenhang zwischen der psychischen Struktur des Schreibenden und seinem Schaffen : es wird dargelegt, wie z.B. Alain Juranville[13], das Schreiben als ein Werkzeug der Sublimierung handhabte, das die verborgenen Seiten des Schriftstellers und Menschen enthüllt.
« An der Schreibweise erkennt man den Menschen … an den man sich wendet ? » schrieb Jacques Lacan[14]. In der Tat läßt die vorliegende Untersuchung die Schlußfolgerung zu, daß es gerechtfertigt ist, eher von einer Ethik des « perversen » als von « perversem » Verhalten zu sprechen : die « Perversion » ist eine Art, sich auszudrücken, um zu überleben. Das heißt, es gibt keine wirklich unabhängige Schreibweise, da hierbei Zwänge wirksam werden, die sowohl vom Empfänger als auch vom Sender ausgehen. Mit anderen Worten : Stil ist Ausdruck und Instrument kulturellen Umschwungs.
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[1] Jacques Lacan, französischer Psychoanalytiker, gestorben 1981.
[2] Der Surrealismus ist eine literarische und künstlerische Bewegung, die im Jahre 1924 von André Breton beschrieben wurde. Die Surrealisten beriefen sich u. a. auf die Psychoanalyse und auf Philosophen wie Hegel.
[3] Dabei handelt es sich um Forschungen, deren Ergebnisse von den Psychoanalytikern der « Fondation du Champ Freudien » beim VI. internationalen Treffen des « Champ Freudien » in Paris im Juli 1990 vorgestellt wurden.
[4] « Isidor Sadger, Arzt, war einer der begabtesten Pioniere der Psychoanalyse. (…) Seine Beiträge zur Psychologie der Perversion, besonders Homosexualität, sind bemerkenswert ». In : Minutes de la Société psychanalytique du mercredi, Band I, Paris, 1976, S. 29.
[5] Jacques Lacan. « L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud ». In : Écrits, Seuil, Paris, 1966.
[6] In der vorliegenden Arbeit wird das Wort « Perversion » abgegrenzt von einem Universum pseudoethischer Betrachtungen, gerichtsmedizinischer Festlegungen oder sittlicher Vorstellungen, die davon ausgehen, daß die Wörter « Perversion » und « Perversität » synonym verwendet werden können. Beide Begriffe haben jedoch nichts miteinander zu tun.
[7] Es handelt sich nicht um Inzestverbot, sondern um das « Gesetz », das im Unbewußten als Gesetz der symbolischen Kastration funktioniert.
[8] In : Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, oder Einführung in die Psychoanalyse.
[9] In der Arbeit wird von « Sexualität », nicht von « Geschlecht » gesprochen.
[10] « Ich schreibe nur, weil ich es nicht lassen kann. » (Kleist an Otto August Rühle von Lilienstern, Königsberg, 31 August 1806).
[11] « Rejoindre la méprise en son lieu ». (Jacques Lacan, in : Séminaire du 9-4-1974, unveröffentlicht). Das Sprachversehen ist für Jacques Lacan die Täuschung des Unbewußten, die in der Sprache offenbar wird.
[12] An Wilhelmine von Zenge, 13. September 1800.
[13] Alain Juranville. Lacan et la philosophie. PUF, Paris, 1984, S. 287.
[14] Jacques Lacan. Ecrits. Seuil, Paris, 1966, S. 9.